DIE MYTHEN
Dreissigtausend Menschen nehmen jedes Jahr den gut gesicherten Weg auf den Grossen Mythen unter die Füsse. Der Aufstieg ist eindrücklich, der Tiefblick nach Schwyz und auf den Vierwaldstaedtersee, die Sicht in Alpen und in die Ferne sind überwältigend. Man nennt den Grossen Mythen auch das «Matterhorn der Wanderer». Wer einmal oben war, kehrt immer wieder. Einige schaffen es über hundert Mal – im Jahr. Andere ziehen die einsamen, aber anspruchsvollen Aufstiege vor, den Schafweg mit dem legendären Nollenbrünneli oder den Nordgrat auf den Haggenspitz und den Kleinen Mythen. Kletterer haben Routen in allen Schwierigkeitsgraden durch die Felswände erschlossen, die zu den feinsten weit und breit gehören. Mit etwas Fantasie erkennt man in der bei Künstlern beliebten Ansicht von Westen eine Herzform. Auch in der Geschichte des Landes kann man die Mythen als «Herz der Schweiz» bezeichnen, gehören sie doch zum Grundbesitz der Genossame Schwyz, die am Ursprung der Eidgenossenschaft steht. Dass die Mythen das Zentrum des Wandgemäldes im Nationalratssaal bilden, unterstreicht ihre Bedeutung und ihre Symbolkraft. Die Mythen gehören zum Mythos der Schweiz. Blättert man durchs Gästebuch des Gipfelhauses, so wird klar, dass nicht nur Schweizerinnen und Schweizer die Mythen in ihr Herz geschlossen haben. In allen Sprachen der Welt schwärmen Menschen vom Gipfelerlebnis, das sie mit eigener Muskelkraft und etwas Mut erreicht haben. Man spürt, wie beglückt sie sind von der einzigartigen Aura des Ortes hoch über dem Land. Die Mythen sind Teil der Geschichte der Schweiz, sie haben aber auch ihre eigene faszinierende Geschichte. Geschrieben haben sie unter anderem die Mythenfreunde mit ihrem unermüdlichen Einsatz für den Unterhalt des Wegs und des Gipfelhauses – und das seit über 150 Jahren.
Wem gehören die Mythen?
Wie die Genossame Schwyz in Besitz der Mythen kam, ist nicht eindeutig belegt. Der wirtschaftliche Nutzen von Felswänden und steilen Grashalden hält sich allerdings in Grenzen. Vor einigen Jahren stellte ein Schwyzer Kantonsrat aus dem Alptal im Rat die Frage: «Wem gehören eigentlich die beiden Mythen?» Die Antwort war: «Alles ob dem geschlossenen Wald ist im Besitz der Genossame Schwyz.» Das war nicht immer so. Alemannen besiedelten das Land Schwyz im 5. Bis 9. Jahrhundert. Diese freien Bauern bildeten eine Marktgenossenschaft, die als Oberallmeindkorporation Schwyz noch heute besteht. Ihr gehörte das ganze Gebiet des Alten Landes Schwyz, heute Bezirk Schwyz. Erwähnt wird die Oberallmeindkorporation in einer Urkunde von Kaiser Heinrich IV vom 1 0. März 1114, die über den Marchenstreit zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Schwyzern berichtet. Sie ist älter als die Eidgenossenschaft und gehört zu deren Vorläufern. Neben dem Land, das jedem freien Manne zur eigenen Nutzung gegeben war, gab es schon immer die Allmeind, das heisst Alpen, Weiden und Wald, die allen Marktgenossen zum gemeinsamen Gebrauch zustanden. Wer Anteil an der Allmeind haben wollte, musste Landmann sein aus einem freien alten Schwyzer Geschlecht. Das Land blieb unverteilbarer Besitz und überlebte selbst den Sturz der alten Ordnung mit der Französischen Revolution und allen darauf folgenden Wirren bis in unsere Zeit. Am 15. Oktober 1882 stimmte die Oberallmeind-Gemeinde einem Teilungsvertrag zu, der gemeinsame Besitz sollte durch die Aufteilung besser genutzt werden. Dadurch entstanden im Kanton Schwyz die Dorf Genossamen. Die Genossamen erhielten die niedrig gelegenen Bodenallmeinden bis «Mitte Berg», also etwa 800 Meter über Meer. Die Hoch- und Mittelalpen verblieben der Oberallmeindkorporation. Wald wurde den Genossamen erst im Jahre 1927 und teilweise noch später zugeteilt. Durch Zukauf weiterer Liegenschaften und Alpen dehnte sich die Genossame Schwyz aus. In neuerer Zeit verkaufte sie Bauland, baute eigene Mehrfamilienhäuser und trug dadurch wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung von Schwyz bei. Die unbebauten Talliegenschaften der Genossame dienen ansässigen Bauern als Zupachten, während die Alpen von allen Bauern gemeinsam genutzt werden. Fünfzehn Alpen, darunter Zwüschet Mythen und Gummen, gehören der Genossame Schwyz. Der mündlichen Überlieferung nach habe man bei der Teilung der Oberallmeindkorporation die Mythen der Genossame wohl einfach «zugeschoben», um fehlende Fläche zu ergänzen, vermutet Genossen Verwalter Hans Reichmuth. Auch wenn sich diese These aus den Akten nicht belegen lässt, ist bis heute kein anderer, plausibler Grund bekannt. Ausser Wildheu und Weide für Ziegen und Schafe war da wenig zu holen. «Doch einmal im Jahr stellen wir fest, dass die Mythen uns gehören. Als Besitzerin haben wir Anrecht auf eine Gämse, die der Jagdaufseher abschiessen musste, etwa weil sie altersschwach oder blind war.» Dies ist als Gegenleistung für das Äsen der Zwüschet-Mythen-Allmeind durch das Gämswild zu verstehen. Weder altersschwach noch blind sind dagegen die traditionsreichen Schwyzer Genossenschaften; sie haben sich zu wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmen entwickelt. Wie die Genossame ist auch die Oberallmeindkorporation in der Alp- und Forstwirtschaft tätig und verfügt über Immobilien. Als grösste private Waldbesitzerin der Schweiz produziert sie zudem erneuerbare Energie aus Holz.
(Auszug aus dem Buch «Die Mythen» von Emil Zopfi, www.asverlag.ch)